Liesel und ihre jüngere Schwester Lotti

An einem anderen Sonntag früh – Liesel ist Susann und René schon ganz schön ans Herz gewachsen – haben die beiden wieder ihren Balkontisch gedeckt und gleich ein Tellerchen Hackepeter am Tischrand nur für Liesel aufgestellt. Natürlich war nicht klar, ob sie überhaupt kommt, schließlich gibt es viele Balkon- und Gartentische, die alle reichlich gedeckt sind. Wo soll man als kleine Wespe da überhaupt anfangen? Dieser Gedanke sorgte für viel Verständnis bei den beiden Menschlein. Schließlich sind sie nicht die einzigen Menschen, die solch fleißigen Besuch bekommen.

Das ist Lotti – gezeichnet von Tamara (5 Jahre)

Unsere Liesel ist, das muss erwähnt sein, die älteste der Wespen-Kinderschar und irgendwann müssen auch die Kleinen ein bisschen Futter nach Hause bringen. Sie werden ja größer und kräftiger und können ein bisschen mit helfen, damit es der ganzen Wespen-Familie gut geht. Und so begab es sich, dass unsere Liesel die nächst größere Schwester anlernen musste. ‚Ausgerechnet Lotti…‘, dachte Liesel, ‚sie ist doch immer so schusselig und am Ende lässt sie noch irgendwas fallen. Das kann ja heiter werden‘. Aber es nützte nichts, auch Lotti musste die Nahrungsbeschaffung lernen – und was die Mama sagt, muss schließlich auch gemacht werden. Außerdem möchte Lotti mal ihre eigene Familie ernähren und wenn sie es zu Hause nicht gelernt hat, wie soll das dann gehen? Aber wenigstens war Lotti keck und aufgeweckt. Eben ein aufgewecktes Schusselchen.

Also flogen die beiden Wespen-Schwestern los. Da unsere Liesel ja ein Gedächtnis wie ein Pferd hat und den Hackepeter bei Susann und René nicht vergessen kann, war das ihre erste Adresse. Wespen müssen nämlich mit ihren Kräften schonend umgehen. Sie können nicht mal hier und mal da herumfliegen, ohne, dass sie etwas zu futtern abgekriegt haben. Und so kamen sie – zuerst die größere Liesel, dann die kleinere Lotti. Lotti hatte den Anschluss fast verpasst, sie konnte gerade noch ihre Schwester um die Ecke fliegen sehen. Liesel rief: „Hurtig, hurtig, Lotti, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“.
‚Ja, ja…‘, dachte sich Lotti, ‚ich komm‘  ja schon… So eine Hektik zum frühen Morgen‘.

Nun muss man wissen, dass bei Susann und René auch eine recht große Katze wohnt. Eine Diva, wenn man`s genau nimmt, mit langem schönen Fell und noch längeren Krallen, die auch schon mal kleine unvorsichtige Wespen zwischen ihre Pfoten bekommt – wenn die Diva sich bemüht, überhaupt aufzustehen. Meist lohnt es sich nicht, die Wespen sind ihr zu flink.

Zielsicher steuerten die beiden Wespen-Mädchen – Liesel über den angebrachten Katzen-Maschendrahtzaun, Lotti sehr kunstvoll durch eine der Öffnungen – den Hackepeter an. Liesel bemerkte diesen Kunstflug natürlich und leierte mit ihren Augen. ‚Immer muss sie etwas extra machen‘, dachte sie sich genervt. Plötzlich wurden ihre Augen riesengroß. Da stand er nun, der Hackepeter. „Irre‘, jauchzte Liesel, „es gibt Leckeres vom Fleisch“. Liesel blickte zu Lotti und zeigte ihr, wie groß die Stückchen, die sie nun nach Hause bringen wollten, sein müssten. Da Lotti nun ein ganzes Stückchen kleiner ist als Liesel, waren die Portionen, die Liesel zuschnitt, viel zu groß und zu schwer. Lotti flog an – und plumpste samt ihrer Beute auf den Teller zurück. „Autsch, das tat aber weh am Pops“ schimpfte Lotti und rieb sich ihren Hinterleib. Liesel schüttelte den Kopf. „Nein, nein, deine Stückchen müssen wir natürlich kleiner machen. Nicht, dass du noch abstürzt“. Liesel wusste allerdings nicht, ob das so schlimm wäre. So richtig leiden mag sie ihre Schwester ja nicht. Sie würde lieber allein fliegen und das Futter mit nach Hause bringen. Aber warum? Möchte sie sich besonders beliebt machen? Will sie allen zeigen, dass sie die Große ist und ihren Beitrag für die Familie ganz allein aufbringen kann? Vielleicht kann sie Lotti einfach nur nicht leiden, weil sie eben schusselig und unaufmerksam und irgendwie chaotisch ist. Aber in einer kleinen Ecke ihres Herzens weiß sie auch, dass Lotti eine sehr liebeswerte Schwester ist, die auch ihre guten Seiten hat. Ihr Bruder Leo sagte mal: Liesel ist die Tolle und Lotti ist die Olle. Das hatte Lotti gehört und war sehr traurig.

Liesel hatte sich eine Portion zurechtgeschnitten und flog, ohne ihre Schwester, nach Hause, und kam auch gleich wieder zurück – da blieb ihr fast das Herz stehen. „Huch, Hilfe, wo ist Lotti geblieben? Auweia, was erzähle ich der Mama, wenn die Lotti nicht mehr wiederkommt. Ich sollte doch auf sie aufpassen“, jammerte sie. Da entdeckte Liesel die Miezekatze auf dem Balkon, die schon ganz grimmig guckte – und ihr wurde ganz übel. ‚Was, wenn die Mieze die Lotti gefressen hat? Kann ich dann überhaupt noch nach Hause? Jetzt, wo ich versagt habe?!‘. Den Gedanken mochte sie gar nicht zu Ende denken. Nun schämte sie sich dafür, dass sie die Lotti am liebsten nicht mehr haben wöllte. Nichts wollte sie lieber als ihre Lotti! „Hilfe, was mache ich denn bloß?“ schluchzte sie nun. Der Hackepeter war ihr nun plötzlich schnuppe. ‚Und geschmeckt hat der sowieso nicht‘, dachte sich die Liesel trotzig. Sie war verzweifelt und ihre Fühler hingen herunter. Himmel, was für ein schlimmer und trauriger Tag.

Doch auf einmal surrte es neben ihr. Liesel war plötzlich wieder hellwach. „Lotti? Bist du das?“, rief sie. Und tatsächlich. Lotti hatte sich vor der Miezekatze in Sicherheit gebracht und wartete im Balkonblumenkasten auf ihre Schwester. Liesel war glücklich. Ach was, überglücklich. „Warum hast du dich denn versteckt?“ fragt Liesel.

„Du warst auf einmal weggeflogen, ganz so, als ob ich gar nicht da wäre“, antwortete Lotti traurig, „da habe ich mich lieber versteckt, denn vor der Miezekatze kann man sich doch auch nicht sicher sein“. Nun kam auch ein Lächeln in Lottis Gesichtchen zurück: „Aber ich weiß ja, dass du mich nicht alleine lässt, du bist meine große Schwester. Irgendwann kommst du wieder und holst mich ab“ sagte sie und wippte ihr Köpfchen sehr keck. Sie hatte wohl ganz großes Vertrauen zu ihrer Liesel.

Die wiederum wusste ja um ihre nicht so schönen Gedanken wegen der Lotti und blickte beschämt auf den Boden. Dann aber versprach sie, Lotti nie wieder allein zu lassen und beide umarmten sich ganz doll.

Plötzlich löste sich Lotti und sagte mit weit aufgerissenen Augen: „Wir müssen doch Futter mit nach Hause bringen, wir können hier nicht so trödeln. Und wer weiß, ob nicht die Miezekatze sonst die Leckereien wegfuttert“. Liesel lachte und zeigte Lotti, wie groß ihre Portionen sein müssen, damit sie sie wegtragen kann. Emsig schnitten sie die Stückchen ab – und flogen gemeinsam nach Hause und kamen gemeinsam zurück, um neue Portionen abzuholen. Und das ging dann immer so weiter, bis der Teller schließlich leer, dafür aber die Vorratskammer voll war.

Als die Mama fragte, ob denn alles gut gegangen und Lotti ein gute Schülerin gewesen sei – sie kennt ja ihre Mädchen und weiß ganz genau, dass Lotti manchmal etwas schusselig und nicht so ganz auf der Höhe der Zeit ist – sagte Liesel: „Es war alles in Ordnung, die Vorratskammer ist voll und wir haben auch nichts unterwegs verloren. Ich habe aber etwas gefunden“ – und blickte dabei zu ihrer kleinen Schwester und lächelte. Die Mama verstand natürlich nicht. Aber das war egal. Die beiden Wespen-Schwestern wussten es ganz genau – und in der folgenden Nacht schliefen sie sogar in einem Bettchen eng aneinander gekuschelt.

Die Geschichte – Liesel und ihre jungere Schwester – als .pdf downloaden